Gesundheitssysteme unter der Lupe des demografischen WandelsZukunftsprognosen aus der Forschung an der Hochschule Aalen

Prof. Dr. Stefan Fetzer forscht an der Hochschule Aalen zu den Themen Gesundheitsökonomie und Demografie. © Hochschule Aalen | Ilka Diekmann

Mo, 20. March 2023

Dr. Stefan Fetzer ist Professor für Public Health und Internationale Gesundheitssysteme. Seit 2011 lehrt und forscht er an der Hochschule Aalen zu den Themen Gesundheitsökonomie und Demografie in den Studiengängen Gesundheitsmanagement (Bachelor und Master), Digital Health Management und Physician Assistant. Dabei greift Herr Professor Fetzer nicht nur Fragestellungen zur Ausgestaltung und Steuerung von Gesundheitssystemen auf. Er erforscht auch deren ökonomische Besonderheiten, insbesondere im Zusammenhang mit der anstehenden Digitalisierung und der demografischen Entwicklung.


Was wäre, wenn wir im Jahr 2060 doppelt so viele Patienten mit Volkskrankheiten wie Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder Arthrose wie heute hätten? Was könnte dies dann für unsere Krankenversorgung bedeuten? Wie aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen prognostizieren, hätte dies weitreichende Folgen für die vorzuhaltenden Kapazitäten in unserem Gesundheitssystem. Dazu gehören zum Beispiel die Anzahl an Betten in Krankenhäusern, Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegerinnen und Pflegern − es betrifft aber auch die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems. Wie jüngst die Corona-Pandemie gezeigt hat, sind diese Fragestellungen jedoch in der Handhabung nicht trivial. Mit diesen und weiteren gesellschaftlich bedeutsamen Fragen rund um das Thema Gesundheit(ssysteme) und demografische Entwicklung beschäftigten sich Herr Prof. Dr. Stefan Fetzer sowie Kolleginnen und Kollegen an der Hochschule Aalen. 

Herr Prof. Dr. Stefan Fetzer forscht im "Kompetenzcenter für Gesundheitssystemgestaltung“ an der Hochschule Aalen neben regulatorischen Fragen zur Ausgestaltung von Gesundheitssystemen vor allem an den Folgen der demografischen Entwicklung für Krankheiten und die nachhaltige Finanzierbarkeit. Im Interview mit Ilka Diekmann erzählt der Volkswirt und Forscher Fetzer, warum die Berücksichtigung der bevorstehenden Alterung der deutschen Bevölkerung besonders im Gesundheitswesen relevant ist, und was hier in Zukunft zu erwarten und berücksichtigen ist.


Ilka Diekmann (ID): Herr Fetzer, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit demografischen Entwicklungen im Kontext der Sozial- und Gesundheitssysteme. Worum geht es dabei? Welche aktuellen Aspekte greifen Sie auf?

Stefan Fetzer (SF): Grundsätzlich kann meine Forschung in diesem Themenkomplex in zwei Gebiete unterteilt werden. Das eine sind Prognosen, die die Konsequenzen der demografischen Entwicklung aufzeigen, wie zum Beispiel auf die Entwicklung des Krankheitsspektrums, der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder auch Trends bezüglich der Pflegebedürftigkeit. Zum anderen geht es um die finanzielle Nachhaltigkeit von Sozialsystemen. Das ist eigentlich ganz ähnlich wie bei den Forschungen zum Klimawandel − leider auch bei den Ergebnissen. Denn heraus kommt meistens, dass wir ohne gravierende Anpassungen auf Dauer nicht weiter machen können wie bisher. Der mutmaßliche Grund ist ebenfalls der gleiche: Der Gedanke der (finanziellen) Nachhaltigkeit spielt in der Politik nur eine untergeordnete Rolle. Im Unterschied zum Klimawandel gibt es allerdings bisher keine Fridays-for-future-Bewegung, die für eine langfristig finanzierbare Renten-, Kranken- oder Pflegeversicherung demonstriert.

ID: Welche wichtigen Erkenntnisse können Sie dabei gewinnen?

SF: Die Ergebnisse, die wir erzielen, erstaunen uns immer wieder selbst. Zwar passen diese im Großen und Ganzen zu dem, was bei ähnlichen Ansätzen anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rauskommt, wie zum Beispiel eine massive Zunahme der Pflegebedürftigen in den kommenden vier Dekaden oder ein Anstieg der Beitragssätze zu Sozialversicherungssystemen. Allerdings gewinnen wir dann auf einer zweiten Detailebene immer wieder neue Erkenntnisse. Beispielsweise fanden wir in einer Forschungsarbeit zur zukünftigen Entwicklung der zehn häufigsten Krankheiten in Deutschland heraus, dass in den kommenden Jahren auch große Volkskrankheiten wie Rückenleiden oder Arthrose unter realistischen Modellannahmen noch massiv zunehmen werden. Die bisherige Wissenschaft konzentrierte sich diesbezüglich zuvor fast ausschließlich auf (offensichtlich) sehr stark altersabhängige Krankheitsbilder wie Demenz. 

Ein weiteres Beispiel ist eine neue wissenschaftliche Veröffentlichung zur Entwicklung der Arzneimittelausgaben. Hier ist es so, dass nach unseren Modellen rein demografische Faktoren eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr hängt die zukünftige Entwicklung der Arzneimittelausgaben sehr stark von der Versorgung von Risikogruppen mit teuren Arzneimitteln ab, die ganz besonders hohe Kosten verursachen, und insbesondere mit der zukünftigen Entwicklung ihrer Lebenserwartung. Setzte sich der Ausgabentrend für die kostenintensiven Patientinnen und Patienten fort, so führte dies nach unseren Prognosen bis 2040 dazu, dass die Pro-Kopf-Ausgaben für Arzneimittel um über 40 % steigen – eine isolierte Betrachtung des demografischen Wandels führt dagegen „nur“ zu einem Anstieg von rund 15 %.

ID: Zu Ihrer Forschungsmethodik: Wie gehen Sie bei der Entwicklung des Forschungsdesigns vor?

SF: Da ich von der volkswirtschaftlichen Forschung komme, wird als Basis im methodischen Teil eigentlich immer ein bestimmtes Modell genommen und mittels Formeln dargestellt. Bei Bedarf wird es auf die Fragestellung angepasst oder entwickelt. Im nächsten Schritt wird das Modell dann auf Basis der erhobenen Daten auf eine bestimmte Fragestellung angewendet. Welche spezifische Methode genau genommen wird, hängt immer von der Fragestellung ab. Zum Beispiel lassen sich Prognosen zur Zahl der Pflegebedürftigen mit der eher schlichten statistischen Kohorten-Komponenten-Methode ganz gut modellieren, die auch bei Bevölkerungsprognosen zur Anwendung kommt. Hingegen ist es bei Fragen der finanziellen Nachhaltigkeit etwas komplexer. Hier ist auch a priori gar nicht klar, welche Methode die geeignetste ist. Deswegen mache ich auch ganz gerne Vergleiche unterschiedlicher Modellwelten.

ID: Wie erfolgt die Suche und Beschaffung von Daten für ein Forschungsprojekt?

SF: Die Beschaffung passender Daten ist gerade im Gesundheitsbereich nicht zu unterschätzen. Hier muss man zunächst einmal wissen, wo man diese findet, und dann auch, wie man sich diese zugänglich macht. Beispielsweise bergen die Routinedaten von Krankenkassen einen riesigen Datenschatz. Wenn man diese auswerten möchte, stößt man aber häufig auf rechtliche Hürden, zum Beispiel den Datenschutz. Solche „Nadelöhre“ sollte man auf dem Schirm haben. Gemeinsam mit starken Kooperationspartnern wie den Krankenkassen und ihren Mitarbeitenden lassen sich in der Regel (schnell) zielführende Lösungsansätze finden. Dann kann man die Daten so nutzen, dass selbstverständlich alle Vorgaben eingehalten und die Rahmenbedingungen berücksichtigt werden und sich die wertvollen Informationen dennoch herausarbeiten lassen.

ID: Durch die Corona-Pandemie wurden Defizite des Gesundheitswesens aufgedeckt. Wie nehmen Sie als Experte die aktuellen Debatten zum Umgang mit der Corona-Pandemie wahr?

SF: Dass in der Corona-Pandemie von politischer Seite nicht alles gut gelaufen ist, ist ja auch noch heute Gegenstand vieler Debatten. Was ich aber als Wissenschaftler immer noch bemerkenswert finde, ist, wie Politiker damals auf die sogenannten „Modellierer“ des Infektionsgeschehens gehört haben, oder zumindest deren Ergebnisse für die Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen haben. Was leider ein bisschen untergegangen ist, dass Prognosemodelle auch daneben liegen können, wenn entscheidende Annahmen nicht eintreffen. Deswegen hätte man vielleicht intensiver über die Modellannahmen diskutieren sollen.

ID: Was bedeutet dies für die zukünftige Demografie-Forschung?

SF: Während Corona ging es um die Modellierung eines kurzfristig wirkenden epidemiologischen Infektionsgeschehens. Meine Hoffnung ist, dass die politisch Verantwortlichen sensibilisiert sind, bei Entscheidungen über die mittel- und langfristige Ausgestaltung des Gesundheitssystems die Ergebnisse der Wissenschaft zu berücksichtigen. So könnten beispielsweise die Prognosen für nicht infektiöse, eher von (altersabhängigen) Risikofaktoren abhängende Volkskrankheiten bei der Planung zukünftiger Krankenhauskapazitäten Berücksichtigung finden. Ebenso sollte (endlich) eine mittel- bis langfristige Bedarfsanalyse der künftig benötigten Arbeitskräfte in der Gesundheitsversorgung Basis für eine Diskussion des auf uns zukommenden Fachkräftemangels sein. Dann kann man in einem zweiten Schritt überlegen, wie das – auch vor den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitsbereich – „gewuppt“ werden kann. Gerade unser neues Studienangebot „Physician Assistant“ an der Hochschule Aalen ist ein Paradebeispiel, wie man diesen Herausforderungen begegnen kann. Denn er wird zusätzliche Arbeitskräfte an der Schnittstelle zwischen Pflege und ärztlicher Versorgung mit Kenntnissen über die Nutzung von Digitalisierungsmöglichkeiten generieren.