Das Abitur – zwischen Anspruch und WirklichkeitArbeitgeber im Dialog mit Rektor Prof. Dr. Gerhard Schneider

Th, 29. October 2015

„Heute widmen wir uns den drängenden Fragen des Abiturs“, führte Dr. Michael Fried, Vorsitzender der Südwestmetall-Bezirksgruppe Ostwürttemberg, in den Arbeitgeber-Dialog im Verbandshaus der Arbeitgeber in Aalen ein. Auf ein Impulsreferat von Bildungsforscher Dr. Rainer Bölling folgte eine Gesprächsrunde unter der Moderation von SWR-Landesschau-Moderator Jürgen Hörig. Im Fokus: das Abitur.

„Man möchte fast den Eindruck bekommen, die Krise sei der neue Dauerzustand“, bemerkte Dr. Michael Fried in seiner Begrüßung und nannte Beispiele: „Finanzkrise, Flüchtlingskrise, VW-Krise…“. Auf die Metall- und Elektroindustrie treffe dies glücklicherweise nicht zu, sagte er und verwies auf die Entwicklungen der letzten Jahre – und die entsprechenden Tarifabschlüsse. Aber: „Wir müssen um so viel besser sein, wie wir teurer sind“, mahnte er. Die wichtigste Voraussetzung dafür sei „hervorragend qualifizierter Nachwuchs“. Nach Ansicht von Fried sind dabei alle Abschlüsse wichtig – ob dual oder studiert. Und er plädiert eindeutig für das G8 an Gymnasien. „G9 ist der natürliche Feind von Real- und Gemeinschaftsschulen“, sagte er. Für die Dialog-Veranstaltung warf Fried drei Fragen auf: Hält das Abitur, was es verspricht? Sind Abschlüsse vergleichbar? Und hängen soziale Herkunft und Abschlüsse zusammen?

„Das Abitur – zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ war der Vortrag von Dr. Rainer Bölling überschrieben. Bölling ist Bildungsforscher und publiziert seit 2008. Zuvor war er nach dem Studium der Geschichte und lateinischen Philologie sowie Promotion in neuerer Geschichte als Lehrer am Gymnasium Hochdahl in Erkrath und Wissenschaftler an den Universitäten Düsseldorf und Essen tätig. Anhand von Statistiken und Beispielen zeigte Bölling Schwierigkeiten wie hohe Drop-Out-Quoten auf. Er ging besonders auf das Missverhältnis zwischen dem Höhenflug von Abitursnoten und der Qualität der Abschlüsse ein. „Das vorherrschende Denken in Quoten führt eben zu einer Absenkung des Bildungsniveaus“, konstatierte er. Das Bildungssystem solle keine zusätzlichen, beispielsweise finanziellen Hürden aufbauen und Herkunftsungerechtigkeit abbauen, forderte er.

In der anschließenden Gesprächsrunde diskutierten unter der Moderation von SWR-Landesschau-Moderator Jürgen Hörig: Prof. Dr. Gerhard Schneider, Rektor der Hochschule Aalen, Ralf Heinrich, Schulleiter des Thomas-Strittmatter-Gymnasiums St. Georgen, Dr. Johannes Bergner, Ministerialdirigent und Abteilungsleiter im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg und Dr. Michael Fried mit Dr. Rainer Bölling.

„Mich interessieren Ihre Zahlen nicht. Mich interessiert, wie wir zukunftsfähig werden“, sagte Rektor Schneider. Noten sagen seiner Meinung nach zu wenig aus. Schneider plädierte angesichts immer schwächer werdender Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse auch dafür, Studierende noch einmal zum Fach Deutsch zu verpflichten.

Ralf Heinrich nahm die heutige Schülergeneration in Schutz. Die Schüler seien leistungsbereit und -willig. „Aber Themen wie Globalisierung und Digitalisierung kosten Zeit“, sagte er.

Michael Fried betonte, dass viele Industrieunternehmen großen Wert auf Mathe und die Naturwissenschaften legten. „Hier ist die Qualität von Schülerseite leider nicht mehr so hoch wie früher.“ Die Welt heute sei bereits global, sagte Fried. Englisch könne aus diesem Grund schon fast nicht mehr als Fremdsprache gesehen werden. „Viele Schüler können gutes Englisch. Dafür fehlt vielen heute das Fachliche“, konterte Heinrich. Ministerialdirigent Bergner legte Wert auf die Kompetenzorientierung der Schüler und fragte: „Was müssen Schüler heute können?“. Auch Bölling ergänzte: „Wir müssen wegkommen vom Glauben an Zahlen. Die sind nicht alles…“.

Gerhard Schneider ging die Sache pragmatisch an: „Wir brauchen eine intensive Diskussion darüber, was wir priorisieren. Wir können nicht alles wissen.“ Er betonte außerdem, dass Spaß am Lernen wichtig sei. „Den hab‘ ich in Mathe aber nur dann, wenn ich positive Erfolgserlebnisse habe.“

Die Selbsterkenntnis, dass man für sich selbst lerne beziehungsweise etwas tue, komme oft erst während des Studiums, sagte Michael Fried. „Es herrscht eine große Unsicherheit beim Nachwuchs“, sagte Gerhard Schneider. Der persönliche Reifeprozess gehe weit über das Abitur hinaus. „Ich sage unseren Erstsemestern immer, dass sie die nächsten zehn Jahre an ihrer Persönlichkeit feilen müssen.“ Die jungen Menschen müssten in der globalisierten Welt heute motiviert werden, den bestmöglichen Abschluss anzustreben, sagte Schneider. Die Zukunft sei aus seiner Sicht global. „Und die internationalen Standards legt nicht Deutschland fest“, sagte er.

Johannes Bergner sprach einen Schwerpunkt des neuen Bildungsplans von Baden-Württemberg an. Demnach sollen Schülerinnen und Schüler sich künftig frühzeitiger Gedanken darüber machen, was ihnen liegt, was sie interessiert, wo ihre Stärken liegen. Zum Reifeprozess ergänzte er: „Schnelleres Reifen funktioniert auch bei Obst nicht richtig. Das hat immer Einbußen beim Geschmack.“ Rektor Prof. Dr. Schneider meinte abschließend: „Wir müssen einfach auf allen Ebenen kontinuierlich weiter daran interessiert sein, unser Bildungssystem zu verbessern.“

Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von den LGH-Barocksolisten des Landesgymnasiums für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd. Die Dialog-Reihe des Arbeitgeberverbandes soll fortgesetzt werden.